Als seitens der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK) anerkannter sachverständiger Gutachter verfüge ich über reichhaltige Erfahrungen in einem wichtigen Teil des Jugendhilferechtes.
Die
Voraussetzungen für Eingliederungshilfe für seelisch behinderte
Kinder und Jugendliche sind juristisch im § 35a des achten Buches
des Sozialgesetzbuches niedergelegt. Dort heisst es:
"Kinder
und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen
Behinderung bedroht sind, haben Anspruch auf Eingliederungshilfe.
Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall
1.
in ambulanter Form,
2.
in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären
Einrichtungen,
3.
durch geeignete Pflegepersonen und
4.
in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen
geleistet.“
Die
Feststellung einer Abweichung der seelischen
Gesundheit bedarf laut Gesetzestext der Diagnose „eines Arztes, der
über besondere Erfahrungen in der Eingliederungshilfe für seelisch
behinderte Kinder und Jugendliche verfügt, eines psychologischen
Psychotherapeuten oder eines Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten." (BMFSFJ 2010, 88)
Es
ist der einzige Gesetzestext, der der Berufsgruppe der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten explizit gutachterliche Kompetenzen
zutraut.
Aufgabe
einer entsprechenden Stellungnahme ist, Aussagen über die
individuell vorliegende seelische Störung (impairment) zu treffen,
individuelle Einschränkungen (disability) und soziale
Beeinträchtigungen (handicap) zu beschreiben, um davon ausgehend
Vorschläge für die Befähigung (activity) und Teilhabe
(participation) anzugeben (DIMDI 2005).
Kinder und Jugendliche,
deren Eltern bei Jugendämtern Anträge auf Hilfe zur Erziehung stellen und bei denen
sich der Verdacht einer möglichen seelischen Behinderung ergibt können auf Vorschlag des Jugendamtes in meiner Praxis vorstellig werden, um den Verdacht weiter abzuklären.
Da
sich eine drohende seelische Behinderung weitreichend auf die sich
erst entwickelnde Persönlichkeit des Kindes auswirkt, müssen
Hilfemaßnahmen bei betroffenen Kindern und Jugendlichen breiter
angelegt sein als bei Erwachsenen, weshalb die Zuständigkeit für
Kinder mit Eingliederungsbedarf seit 1991 der Jugendhilfe unterliegt
und seit 1993 als Leistungstatbestand im Jugendhilfegesetz zu finden
ist. Während Arzt oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut die
zugrunde liegende Abweichung der seelischen Gesundheit feststellen,
ermittelt der Sozialarbeiter die Teilhabeeinschränkungen des
Betroffenen aufgrund dieser Störungen (vgl. Franziska Kunz 2012).
Hierbei
treten einige Problemstellungen immer wieder auf. So ist die
Abgrenzung von Hilfen, mit denen seelische Behinderung abgewendet
werden soll, von Hilfen zur Erziehung oft schwierig. Teilweise wird
argumentiert, beides sei deckungsgleich. Entsprechend uneinheitlich
handhaben die Jugendämter die auflaufenden Fälle.
Externe
Begutachtungen scheinen nach wie vor
eher die Ausnahme als der wünschenswerte Regelfall zu sein. Dadurch
kommt es auch selten zur interdisziplinären Zusammenarbeit, die bei
einem von so schweren Abgrenzungsproblemen betroffenen Terminus, wie
es die „seelische Behinderung“ bei Kindern
und Jugendlichen ist, doch eigentlich zu fordern wäre.
Wurde das Vorliegen einer
seelischen Behinderung bzw. der Bedrohung von einer solchen
festgestellt, so wird der Jugendhilfeträger verpflichtet,
Krankenhilfe zu leisten. Das Kind oder der Jugendliche hat – im
Gegensatz zu den Hilfen zur Erziehung – selbst Anspruch auf
Hilfeleistung, nicht nur die Eltern.
Der
untersuchende Gutachter ist angehalten, bekannte und nachgewiesene
psychosoziale Risikofaktoren, die das Entstehen von psychischen
Störungen beim Kind begünstigen, im Einzelfall zu explorieren und
darzulegen.
Bei
allen im Rahmen einer Untersuchung bzw. darauf aufbauenden
Stellungnahme festgestellten chronifizierenden psychischen Störungen
gilt: Maßnahmen zur Eingliederungshilfe sind durch das Jugendamt
immer dann zu leisten, wenn trotz oder nach entsprechender
medizinisch-psychotherapeutischer Behandlung die soziale Integration
weiterhin als so beeinträchtigt gilt, dass Hilfen erforderlich sind.
Im Einzelfall ist entscheidend, welche jeweiligen Förder- oder
Therapiemöglichkeiten überhaupt angeboten werden.
Insofern kann ein
autistisches und geistig behindertes Kind unter Umständen im Rahmen
einer Einrichtung für Schwerbehinderte angemessen betreut werden
(Sozialhilfeträger zuständig), in einem anderen Fall könnte es
einer spezialisierten Einrichtung zugeführt werden
(Jugendhilfeträger zuständig). Entscheidend ist die Frage, aufgrund
welcher Art der Behinderung die jeweilige Hilfe gewährt wird bzw. ob
sie gewährt würde, wenn eine Art der festgestellten Behinderungen
nicht vorhanden wäre.
Überwiegt die seelische Behinderung, so wäre
in jedem Fall der Jugendhilfeträger zuständig. Je konkreter der
Gutachter seine Vorstellungen hinsichtlich Hilfestellungen
beschreibt, umso eher kann ein „Verschiebebahnhof“ bei der
Klärung der Kostenübernahme vermieden werden, so dass keine
Zeitverluste zu Lasten der betroffenen Kinder und Jugendlichen
entstehen.
Nicht
selten werden „Umschriebene Entwicklungsstörungen“, manchmal
auch noch als „Teilleistungsstörungen“ benannt, wie Lese-
Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie oder Störungen der motorischen
Funktionen, ohne weitere Überlegungen für seelische Behinderungen
gehalten. Dies ist so nicht richtig. Eine „Umschriebene
Entwicklungsstörung“ kann allerdings zu einer seelischen
Behinderung führen, wenn die Schule diese Besonderheit nicht
berücksichtigt oder Eltern verständnislos dafür erscheinen. Es
besteht dann das Risiko einer „sekundären Neurotisierung“ in der
Auseinandersetzung mit der Besonderheit (Lempp 2004).
Als
problematisch darf gelten, dass Eltern mit Stellungnahmen der
potentiellen Leistungserbringer – also privaten Instituten zur
Therapie von Rechenschwäche oder dergleichen – das Jugendamt
aufsuchen, um damit die Anerkennung eines §35a-Falles und eine
entsprechende Finanzierung der Therapie zu erreichen. Hier ist
regelmäßig von einer Kollision mit wirtschaftlichen Interessen
auszugehen. Außerdem sind diese Institute aufgrund fehlender
Fachlichkeit nicht in der Lage, sogenannte Achse-1-Diagnosen im Sinne
des Multiaxialen Klassifikationsschemas (Remschmidt et al. 2006),
also Diagnosen psychischer Störungen im engeren Sinne, zu stellen
und führen deshalb bestehende Probleme einseitig auf die ihrerseits
diagnostizierten Teilleistungsstörungen zurück und überschreiten
damit ihre Kompetenzen. Die Leitlinien der einschlägigen
Fachgesellschaften werden unzureichend beachtet.
Die Eltern
werden durch den Hinweis auf vermeintliche aktuelle und neue Studien,
die den Vorrang der Dyskalkulie betonen und zu einer Ubiquität
dieser Diagnose führen, in die Irre geführt.
Zunächst
einmal sind die Jugendämter gehalten, die Vorrangigkeit der
schulischen Förderung einerseits, der Krankenbehandlung andererseits
regelhaft anzunehmen. Als „ausreichend“ wird eine schulische
Förderung definiert, die mindestens ein halbes Jahr lang mit drei
Wochenstunden erfolglos durchgeführt wurde. Dennoch wäre hieraus
alleine noch nicht das Vorliegen seelischer Behinderung abzuleiten –
erst wenn beispielsweise Schulaversion, Sozialverhaltensprobleme,
depressive Störungen oder dergleichen in der Folge auftreten.
Bitte beachten Sie: Gutachten zu §35a erstelle ich ausschließlich auf Basis externer Beauftragung von Dritten, um die Unabhängigkeit zu bewahren.
Weitere Überlegungen hierzu sowie die Darlegung anhand einiger Fallbeispiele finden Sie in meinem 2014 im Budrich-Verlag Opladen erschienenen Aufsatz im Rahmen des Buches "Psychotherapie und Empowerment".